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Das Netz und so

aus aktuellem Anlass: #occupygezi oder warum wir für „shitstorm“ einen neuen Begriff brauchen.

Für einen Text über Online-Kommunikation recherchiere ich seit kurzem zum Thema shitstorms. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich seit vorgestern, dem 1. Juni, einem live beiwohnen würde. Der noch dazu mit ca. 60-80 neuen Tweets in der Minute (Stand: 18 Uhr, 3. Juni) einer der größten bisherigen zu werden scheint.

„Der Duden definiert einen Shitstorm als „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“. Der Begriff Shitstorm bezieht sich vor allem auf „Blogbeiträge oder -kommentare, Twitternachrichten oder Facebook-Meldungen“. (wikipedia)

Während die meisten dieser Unmutsäußerungen im Internet zwar mit einem Verlust der Reputation, z.B. eines Unternehmens oder eines bestimmten Politikers, einhergehen, sonst aber folgenlos bleiben, haben wir mittlerweile bereits drei durch einen shitstorm ernsthaft geschädigte oder gestürzte Regime in den letzten Jahren erlebt. Der shitstorm selbst kann dabei natürlich kein politisches Regime stürzen. Er kann aber einen so genannten „smart mob“ mobilisieren. Dieser Begriff geht auf Howard Rheingold zurück und meint:

„[…] eine Form des Flashmobs mit politischer oder weltanschaulicher Botschaft. Diese seit einigen Jahren unter anderem bei Globalisierungskritikern gängige Organisationsform von Protesten […] bezeichnet einen kurzen, scheinbar spontanen Menschenauflauf auf öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen, […] [Er] ist eine Form der Selbststrukturierung der sozialen Organisation durch Technologie-vermittelte, intelligente emergente Verhalten.“ (nach wikipedia, gehört aber überarbeitet)

Klingt alles ganz schlau. Das ebenso Erschreckende wie Großartige ist aber, dass es die Realität nicht abbildet. Was man natürlich erst merkt, wenn man selbst einen shitstorm erlebt.

Was sich da im Internet mobilisiert, habe ich bisher noch nicht erlebt – und in Anbetracht der schrecklichen Ereignisse weiß ich auch nicht, ob ich das will. Aber schaut doch mal unter http://imgur.com/a/JvJD3 nach, lest, was http://www.sueddeutsche.de/politik/proteste-in-der-tuerkei-demonstranten-stroemen-auf-den-taksim-platz-1.1686905 schreibt, geht auf kaipiranhas Blog: http://www.kaipiranha.de/blog/occupyturkey-die-proteste-istanbul-und-der-turkei/, oder lest das hier von Sabria David: http://www.slow-media.net/von-platzen-baumen-und-sozialen-raumen. Sucht auf Twitter unter dem hashtag #occupygezi und macht Euch selbst ein Bild des Sturms, der unter unseren Augen, aber auch ohne Berichte in den türkischen Medien losbricht.

Ein Teil der Welt – über das Internet verbunden und koordiniert – solidarisiert sich mit dem türkischen Volk. Die Aktivistengruppe Anonymous hat sich eingeschaltet und attackiert die Rechner der türkischen Regierung, in ihrer Erklärung heißt es:

„We are Anonymous, we are legion,

we do not forgive 

we do not forget.

Gouvernment of Turkey:

It is too late to expect us!“

Zum ersten mir bekannten Mal hat die Gruppe die letzte Zeile ihrer Standarderklärung abgewandelt: Es ist zu spät, sie noch zu erwarten. Der mobilisierte smart mob lässt sich nicht aufhalten.

Ich schaue mit sehr gemischten Gefühlen zu: Meine Timeline habe ich offen, auch den Livestream aus Instanbul, und statt zu arbeiten lese ich alles, was ich in der kurzen Zeit der überstürzenden Ereignisse eben lesen kann. Da ist auf der einen Seite große Betroffenheit und Wut über unschuldige verletzte und tote Menschen. Da ist auf der anderen Seite Begeisterung für die Solidarität und den Mut derjenigen, die kämpfen, und derjenigen, die sie über die Social Media Kanäle verfolgen. Und das ist etwas, an dem wir alle beteiligt sein können – twittern, lesen, retweeten, posten, bloggen, kommentieren: Solidarität zeigen. Und hoffen, dass nicht noch mehr Menschen verletzt werden.

Wenn das alles vorbei ist, werde ich mich hinsetzen und einmal ganz gründlich darüber nachdenken müssen, wie ein solches Phänomen besser zu beschreiben sein könnte als mit dem Begriff „shitstorm“. Denn der passt einfach nicht, wie ich finde.

Nachtrag: Ich verlinke auch hier noch einmal meine Seite im bookmark-System delicious: https://delicious.com/junaimnetz/occupygezi

Wer noch nach weiteren Quellen sucht, ist herzlich eingeladen, diese Liste (mit) zu benutzen.

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