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Alltag, Begegnungen

Begegnungen (II)

Die kleine Straße, die den Berg hinauf führt, ist total dicht. Es scheint, als wolle die halbe Stadt heute hierher. Alle haben Sehnsucht nach dem Schnee, der in gemächlichen, dicken Flocken so verheißungsvoll vom Himmel fällt, aber im Tal nicht liegen bleibt. In unserem Kofferraum befinden sich, wie in den Fahzeugen um uns herum, Schlitten.
Von oben sehen die Rodelpisten, die wir irgendwann allem Verkehrschaos zum Trotz doch noch erreichen, furchtbar aus. Furchtbar steil, furchtbar voll, von furchtbar vielen Bäumen durchbrochen. Wieder einmal führe ich meine Alltagsangst spazieren, halte sie liebevoll an der klammen, zitternden Hand und höre wie von weitem meine Kinder rufen. Sie behaupten, ich müsse dort unbedingt hinunter, und versprechen mir jede Menge Spaß. Die Angst sieht das vollkommen anders.
Trotzdem rasen und fliegen wir kurz darauf unter lautem Gejohle mit zig anderen die unten immer schlammiger werdende Piste hinunter. Beim langen Aufstieg kommen uns zu lautem Lachen und vergnügtem Schreien verzerrte Gesichter entgegen – Spiegel unseres eigenen nassen, noch vor wenigen Sekunden sehr präsenten Abenteuers. Den vielen Menschen auszuweichen ist nicht immer leicht.

Beim zweiten Aufstieg begegnet uns eine Gruppe junger nordafrikanisch aussehender Männer. Sie haben Plastiktüten unter ihren in dünnen Jeans steckenden Hintern und rutschen in Zweiergruppen den steilen Abhang hinunter. Sie sind laut und lärmend und bewegen sich vollkommen unkoordiniert auf den quasi nicht zu steuernden Tüten. Und sie sind dabei so fröhlich und ausgelassen, dass alle oben am Hang wartenden Eltern lachen müssen. Zwei der Männer haben sich einen Schlitten geliehen und fliegen beinahe den Berg hinunter, ein doppelkehliger Schrei bei jedem Abheben der Kufen. Ein zuschauendes Grüppchen oben stößt mit Glühwein an, und Gesprächsfetzen im Plauderton wehen zu uns herüber. Der Wind scheint in der Gegenwart der Menschen um mich herum nicht mehr so eisig, nicht mehr so schneidend zu sein.

Auf dem Heimweg entdecke ich zwei junge Mädchen strahlend Selfies in der Winterlandschaft machen. In Gedanken kann ich die hashtags auf instagram sehen, die später neben dem Bild erscheinen werden. Das asiatisch aussehende Mädchen deutet mit kritischem Gesichtsausdruck auf den Handybildschirm, ihre Freundin lacht. Ein paar Meter weiter rutscht ein in seinem Winteranzug ebenso breites wie langes Kleinkind auf dem eisigen Waldboden aus und fällt lang hin. Der Vater hebt es mit ruhigem, sicherem Griff und ein paar leise gesprochenen Worten wieder auf die Füße. Beim Wegfahren werfe ich noch einmal einen Blick auf die rodelnden Kinder aller Altersgruppen. Schon verschwindet die Sonne hinter dem Horizont, lässt aber ein wunderschön orangenes Farbenspiel in den Wolken zurück. Ich bin nass, mir ist kalt, und ich freue mich auf die Fahrt im immer wärmer werdenden Auto. Zum ersten Mal seit Tagen habe ich gelacht. Alles kann gut werden. Nein, alles ist bereits gut.

  1. Heike Ingenhoven

    Umarmung!
    Heike

  2. Schön, liebe Juna!

  3. Ute

    🙂 danke für deine Ehrlichkeit

  4. Alles ist gut. So schön. Und irgendwie hat mir der RSS-Reader gerade eben auch folgendes Zitat von Edmund Hillary gezeigt:

    “Es ist nicht der Berg, den wir bezwingen – wir bezwingen uns selbst.” ~~~ Edmund Hillary

    Ok, verglichen mit dem Mount Everest den Hillary erstiegen hat ist Euer Schlittenhügel vielleicht nur eine kleine Delle in der Welt, aber wie Du so wunderbar plastisch beschrieben hast stellt er doch eine immense Herausforderung an Deine Angst dar. Und Du hast Dich dieser Angst gestellt und dann festegestellt, dass es gar nicht so schlimm ist wie man es sich ausmalt. Du hast also Deinen inneren Mount Everest bezwungen. Bravo.

  5. Ich glaube ich konnte gerade beim Lesen Deines Beitrags einen Hauch meiner eigenen Kindheit im Gedankenwirrwar herauskramen. Ich hatte ein Bild vor Augen vom Kohlhof, der Schlittenrennbahn in Heidelberg überhaupt. Vom Gefühl auf dem förmlich unsteuerbarem Schlitten auf festgefahrenen vereisten Pisten über die Hubbel herunterzudonnern, in der Hoffnung dass kein Baum im Weg steht. Abentheuer, Spaß, Geschwindigkeit. Und dann der mühsame Aufstieg. Mit vor Kälte schmerzenden Füßen und Finger. Um dann wieden in anderer Konstellationen zu zweit herunter zu sausen… Übrigens, die Korrekturhilfe hier kann nur Englisch 🙂 ^^^

  6. Hach, ich komme so gerne immer wieder zu diesem Text zurück…

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